Dr. Dany Weyer ist Leiter der Abteilung „Partizipation“ am Festspielhaus Baden-Baden.
Herr Weyer, ich glaube, Ihre Funktionsbezeichnung ist ziemlich singulär im deutschsprachigen Kulturbetrieb? Was ist eine Abteilung „Partizipation“?
Nachdem sich im Festspielhaus Baden-Baden über viele Jahre hinweg Formate im Bereich der kulturellen Bildung etabliert haben und das Angebot sukzessive ausgebaut wurde, wurde 2021 eine neue Abteilung „Partizipation“ gegründet. Wir setzen damit ein deutliches Zeichen: Durch regelmäßige Angebote, die zum Mitmachen, Ausprobieren und Austauschen einladen, wollen wir Nähe zu Kunst und Künstler*innen schaffen. Unser Ziel ist es, alle Generationen für unser Programm zu begeistern und Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Raum und Zeit zu geben, gemeinsam mit Künstlern unsere Bühne zu erobern.
Wodurch unterscheidet sich Ihre Arbeit von den Abteilungen für „Vermittlung“, „Konzertpädagogik“, „Education“ o.ä., wie es sie an den meisten Theatern und Konzerthäusern gibt?
Wir knüpfen an ähnlichen pädagogischen und bildungswissenschaftlichen Ansätzen an, legen den Schwerpunkt unseres Angebots aber konsequent auf den partizipativen Charakter jeder Veranstaltung. Wir sind davon überzeugt, dass man sich Kunstformen wie Musik, Tanz und Oper durch ein aktives und freudvolles Erfahren sehr intensiv und erlebnisorientiert nähern kann. Uns liegt es bei allen Projekten am Herzen, einen direkten Austausch auf Augenhöhe zwischen Künstlern und Publikum zu fördern, um in Gemeinschaft voneinander lernen zu können.
Auch das Projekt „Diggin Opera“ ist ein Beispiel für Ihren partizipativen Ansatz. Könnten Sie in wenigen Worten beschreiben, worum es dabei ging?
Im mehrjährigen Projekt „Diggin‘ Opera“ erarbeiten Jugendliche unter Anleitung verschiedener Künstler-Teams insgesamt drei zukunftsweisende Musiktheaterproduktionen. Wir haben „Diggin‘ Opera“ als praxisorientiertes Forschungsprojekt konzipiert, in dem die Verantwortung, Ideen und Erfahrungen der jugendlichen Projektteilnehmer*innen eine zentrale Rolle spielen. Folgende Fragestellungen begleiten den Arbeitsprozess: Wie können wir Jugendliche für das Musiktheater begeistern? Welche Rolle können digitale Medien in der Vermittlungsarbeit spielen? Inwiefern bereichern wir den Unterricht durch die Übertragung von künstlerischer Verantwortung auf die Schüler*innen?
Zentraler Gedanke bei der Entwicklung von „Diggin Opera“ war die Frage, wie sich Musiktheater und digitale Techniken verbinden lassen. Wie sahen Ihre Pläne für die ersten beiden Durchgänge aus? Welche Rolle war der Digitaltechnik zugedacht? Welchen hat sie jeweils eingenommen?
Im ersten Durchgang (2019) haben drei Schulklassen neben ihrem Körper, Stimm- und Schauspieltraining ein interaktives Bühnenbild erarbeitet. Mittels Projektionen, Klangkollagen und Choreografien haben 54 Schüler*innen gemeinsam mit dem Komponisten Jan Paul Werge und dem Video- und Sounddesigner Stefan Zintel audiovisuelle Bühnenelemente gestaltet. Im zweiten Durchgang (2020-2021) stand die künstlerische Auseinandersetzung mit der Virtuellen Realität im Mittelpunkt. Jugendliche aus Deutschland und Irland experimentierten mit VR-Brillen und erstellten gemeinsam mit dem Künstlerkollektiv „CyberRäuber“ virtuelle Figuren und 3D-Welten.
Während im ersten Durchgang digitale Medien für der Erstellung innovativer Gestaltungsmöglichkeiten genutzt wurden, erfüllte das Experimentieren mit digitalen Technologien bei „Diggin‘ Opera II“ einen doppelten Zweck: Zum einen weckte der Einsatz zukunftsweisender Technologie das Interesse am Musiktheater, zum anderen bereicherten digitale Plattformen und virtuelle Welten den internationalen Probenprozess als Kommunikations‑ und Kollaborationswerkzeuge.
Die Hygienemaßnahmen im Zuge der Covid-19-Pandemie haben „Diggin Opera“ digitaler gemacht, als ursprünglich gedacht war. Hat sich der partizipative Ansatz dadurch auch verändert?
Die Verantwortung jedes Einzelnen ist stark in den Vordergrund gerückt. Da die Schüler*innen aufgrund verschiedener Corona-Verordnungen nicht vor Ort im Festspielhaus proben und auftreten konnten, mussten die Jugendlichen von Zuhause aus mit ihrer Webcam spielen, sie an- und ausschalten, Bühnenauftritte verlässlich vorbereiten, Lichteffekte steuern und die Stabilität ihrer Internetleitung ständig kontrollieren. Trotz räumlicher Distanz entstand durch die Eigenverantwortung auch ein Gemeinschaftsgefühl: Ohne volle Konzentration und Einsatz kann die Aufführung nicht gelingen. Interessant für uns war die Beobachtung, dass die digitale Probenarbeit eine sehr individuelle Betreuung und Förderung ermöglichte, da in Kleingruppen oder sogar im Einzelunterricht gearbeitet werden konnte.
Wie haben die Jugendlichen den höheren Grad an Digitalisierung empfunden? War es aus ihrer Perspektive eher negativ oder positiv besetzt?
Die Freude, dass das Projekt und die öffentliche Aufführung trotz globaler Pandemie und den damit verbundenen Kontaktbeschränkungen überhaupt stattfinden konnte überwog – auch wenn viele den persönlichen Kontakt und das Arbeiten auf und hinter der Bühne des Festspielhauses Baden-Baden vermisst haben. Uns hat es sehr gefreut, dass die Jugendlichen aus Deutschland und Irland im Laufe des Projekts erfinderisch wurden und eigenverantwortlich virtuelle Rückzugsorte erschaffen haben, in denen sie sich untereinander kennenlernen und austauschen konnten. Die Digitaltechnik hat somit eine wichtige soziale Funktion in der internationalen Zusammenarbeit entfaltet und wurde von allen als positiv bewertet.
Welche Bedeutung kommt, v.a. aus Sicht der jugendlichen Teilnehmer*innen, den analogen Projektteilen zu? Haben sie etwas vermisst?
Für viele ist das gemeinsame Singen, Tanzen, Musizieren und Auftreten auf einer großen Bühne ein einmaliges und zugleich herausforderndes Erlebnis. Jugendliche schätzen oft das Eintauchen in das „Universum Oper“, in dem das Festspielhaus Baden-Baden zum außerschulischen Lern- und Entdeckungsort wird. Beim zweiten Bühnenwerk von „Diggin‘ Opera“ haben einige Projektteilnehmer*innen das Schnuppern der „echten“ Bühnenluft vermisst. Wir haben Kurzfilme mit Einblicken hinter die Kulissen des Festspielhauses gedreht, die analoge Sinnlichkeit konnten diese Videos nicht ersetzen: den direkten Austausch mit Mitarbeiter*innen vor Ort, das Anfassen des Bühnenbodens, das gemeinsame Mittagessen in der Kantine oder das Spüren der Wärme der großen Scheinwerfer.
Welche Rolle werden digitale Techniken in der kulturellen Jugendarbeit künftig spielen?
In der Zusammenarbeit mit Jugendlichen haben wir gelernt, dass das Thema Digitalität nicht zwingend im Vordergrund stehen muss, um Interesse an Musiktheater und Anreize für künstlerisches Gestalten zu schaffen. Digitale Techniken sind vor allem dann interessant, wenn sie zum Austausch innerhalb einer Projektgruppe beitragen und einen künstlerischen Mehrwert mit sich bringen. Vor allem im Hinblick auf Partizipation und Kommunikation wird Digitalität in allen Facetten in den kommenden Jahren sicherlich weiterhin eine bedeutende Rolle spielen. Wir freuen uns in dem Zusammenhang auf weitere Entdeckungen!
Vielen Dank!
Mehr zu Diggin Opera: https://www.festspielhaus.de/magazin/diggin-opera-ii-projektblog